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Nach einer schönen, rund fünfstündigen Zugfahrt entlang der Atlantikküste, durch Wälder und Marschland erreichte ich am Montagabend Boston.
Das 1630 gegründete Boston ist eine der ältesten Städte der USA und spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte des Landes. Eine Reihe von Ereignissen und Debatten, die in Boston stattfanden, trugen zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs bei, die ersten Gefechte fanden auch in der Umgebung statt. Die deswegen auch "The Cradle of Liberty" genannte Stadt verweist stolz und gerne auf ihren Beitrag zu den Unabhängigkeitsbestrebungen und führt interessierte Besucher mit einem Band aus in den Boden eingelassenen roten Ziegelsteinen den "Freedom Trail" entlang. Neben Kirchen und anderen Orten, die auch als politische Versammlungsorte dienten, liegen gleich mehrere Friedhöfe an diesem Weg. Die Gräber sind teilweise uralt, einige der Grabsteine stammen gar aus dem 17. Jahrhundert! Hier sind auch einige der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung begraben - die Gräber sind mit amerikanischen Flaggen markiert und einige Besucher zollen den Verblichenen Respekt, indem sie Ein-Cent-Münzen auf die Grabsteine legen. Offenbar ist, besonders auf Militärfriedhöfen, der Wert der zurückgelassenen Münze direkt mit einer bestimmten Botschaft verknüpft, je nachdem, wie gut man mit der verstorbenen Person bekannt war.


Das Ende der durchaus sehr patriotischen Tour bildet die legendäre und im Kampf unbesiegte USS Constitution, das älteste noch seetüchtige Kriegsschiff der Welt (sie wurde übrigens exakt 190 Jahre vor meiner Geburt in Dienst gestellt). 75 Seeleute der US Navy verrichten auf ihr Dienst, primär, um diese Abteilung der Streitkräfte und die historische schwere Fregatte zu präsentieren. Als ich sie besichtigte, fehlte dem Dreimaster allerdings ein recht wesentliches Detail, konkret die Rahen und Segel, die wohl gerade gewartet wurden, jedenfalls lagen erstere an Land herum.

Die Freiheit, die sich die Kolonisten im Unabhängigkeitskrieg erkämpften, galt aber natürlich längst nicht für alle. Sklaven durften in vielen Staaten weiterhin gehalten werden. Auch in Boston war Sklavenhandel und -haltung bis 1783 möglich - wobei schon kurz nach der Stadtgründung als erstes Mitglieder des ortsansässigen Stammes der Massachusett versklavt worden waren. Der Name des Bundesstaats ist, wie in anderen Fällen auch, von der Bezeichnung der ursprünglichen Bewohner des Gebiets abgeleitet. Die Geschichte der Sklaverei in Boston wird zurzeit aufwändig aufgearbeitet - nicht zuletzt weil viele Sklaven keine Nachnamen hatten, ist die Ahnenforschung schwierig. Der Black Heritage Trail und das dazugehörige Museum tragen ihren Teil dazu bei, die Bevölkerung aufzuklären.

Bekanntermassen führte aber auch die Abschaffung der Sklaverei nicht automatisch zu Gleichheit und Brüderlichkeit: Rassistische Ideologien und Praktiken, allen voran Segregation, Redlining und Gentrifizierung erschwerten das Leben der People of Color bis weit ins 20. Jahrhundert und hat auch heute noch deutlich spürbare Auswirkungen. Eine 2015 durchgeführte Studie kommt zum Schluss, dass der auch heute noch präsente systemische Rassismus dazu geführt hat, dass das Nettovermögen einer schwarzen Familie im Grossraum Boston durchschnittlich bei bloss 8 Dollar liegt - das einer weissen hingegen bei 247'500 Dollar! Der Kampf der People of Color, der unter anderem auch im Grossraum Boston einige Meilensteine erreichte, ist entsprechend noch lange nicht ausgefochten. Die dieses Jahr enthüllte Skulptur "The Embrace" erinnert an Dr. Martin Luther King Jr. und seine Frau, Coretta Scott King, die sich in Boston kennen gelernt haben, sowie andere Grössen der Bewegung.

Zu mehr Gerechtigkeit hat unter anderem auch die Harvard University beigetragen, direkt und indirekt - als prestigeträchtige Universität hat sie mit ihren Entscheiden als Vorbild gewirkt, sei es bei der Förderung von Minderheiten oder der Gleichberechtigung von Frauen. Gleichzeitig haben auch zahlreiche Absolventen und Absolventinnen grosse Veränderungen bewirkt, man denke beispielsweise an Dr. Martin Luther King Jr., Barack und Michelle Obama oder John Fitzgerald Kennedy und dessen Bruder Edward Moore Kennedy Sr.

Die auf dem Campus aufgestellte Statue von John Harvard ist anscheinend die am dritthäufigsten fotografierte der Vereinigten Staaten und wird als die Statue der drei Lügen bezeichnet: Erstens war der Namensgeber keiner der Gründer im engeren Sinn, sondern ein bedeutender Geldgeber, zweitens erfolgte die Gründung der Universität 1636 (das Jahr 1638 deutet das Todesjahr und die damit verbundene testamentarische Spende an) und drittens stand, in Ermangelung eines noch erhaltenen Porträts, 1884 ein Student Modell für die Gesichtszüge.

In der Umgebung von Boston sind, abgesehen von Harvard, gleich mehrere Universitäten angesiedelt. Ich kann mit Stolz sagen, dass ich nicht nur Harvard, sondern auch das MIT besucht habe ;)


Obwohl Boston mit seiner Metropolregion eine der grössen Städte der USA ist, wirkt es auf mich nicht so, möglicherweise im Kontrast zu NYC. Spannende Orte bietet die Stadt aber auf jeden Fall auch, wie die Boston Commons (der älteste Park der USA, bestehend seit 1634) und die First Church of Christ, Scientist.


Sehr bekannt ist Boston und das in der Nähe gelegene Cape Cod auch für Whale Watching. In der Massachusetts Bay liegt ein Unterwasserplateau, die Stellwagen Bank, nur 30 bis 40 Meter unter der Oberfläche. Strömungen aus der Tiefe (der Rand des Plateaus fällt steil ab auf 100 bis 200 Meter unter dem Meeresspiegel) bringen Nährstoffe und Mineralien nach oben, wesewegen sich ein vielfältiges Ökosystem ausgebildet hat, das auch verschiedene Walarten und Delfine anzieht. Bei einer Fahrt ins Stellwagen Bank National Marine Sanctuary hatte ich das Glück, zwei Buckelwalkühe mit ihren Kälbern beobachten zu können, und das aus nächster Nähe.

Aktuell bin ich in Provincetown, einem Städtchen am Cape Cod. Es sieht hier so aus, wie ich es mir von einem Ort dieses Namens in den USA vorgestellt habe: Zweistöckige Häuser aus Holz, mit grosszügigen, überdachten Verandas, nett bepflanzte Vorgärten, Fahnenstangen. Allerdings weht hier nicht nur das "Star-Spangled Banner", es sind auch diverse Prideflaggen gehisst, der Urlaubsort ist bei den entsprechenden Communities sehr beliebt.

Die Gebäude stehen im Wesentlichen an zwei langen, parallel verlaufenden Strasse, der Bradford Street und der Commercial Street. An letzterer sind Restaurants, Bars und Läden aller Art angesiedelt, ausserdem findet sich hier eine stattliche Anzahl von Kunstgalerien. P'town, wie Freunde auch sagen dürfen, ist eine Künstlerkolonie und entsprechend können Gemälde, Skulpturen und Schmuck hier erstanden werden. Deswegen bin ich aber nicht hier, mein Rucksack ist so schon gross und schwer... Ich bin vielmehr wegen des National Seashores gekommen, wo ich eine längere Wanderung im Regen unternommen und dabei Möwen beim Muschelknacken beobachtet habe (spannend, bisher kannte ich diese Vögel vor allem als aggressive Biester, die es auf meine Pommes abgesehen haben). Den Spuren von Koyoten folgend, gelangte ich an den Strand und von dort anschliessend wieder in den Wald.



Bevor ich gegen Mitternacht den Greyhound-Bus nach Montréal besteige, treffe ich am Nachmittag meinen langjährigen Spanischlehrer José, der gerade nach Boston gezogen ist. Am Abend bin ich mit Niklas verabredet, dessen Kontakt ich von unserer gemeinsamen Patentante Ute habe. Lustigerweise habe ich am Donnerstag schon mit Anna zu Abend gegessen, die ich aus meinem Erasmusjahr kenne und die gerade arbeitshalber in Boston war. Zufälle gibt's!
