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Am Silversternachmittag kam ich in El Chaltén an und am Abend machten Hostelgäste und -Personal zur Feier des Tages gemeinsam Tacos. Mit vielstimmig mitgesungenen Hits aus den 90ern ging es ins Neue Jahr.
El Chaltén liegt abgelegen fast an der Landesgrenze in der Provinz Santa Cruz, eine ganze Autostunde von der Ruta Nacional 40 entfernt, jener berühmten Fernstrasse, die über 5'301 km Cabo Vírgenes im Süden mit der bolivianischen Grenze im Norden verbindet. Diese Abgeschiedenheit kommt nicht von ungefähr; erst 1985 wurde der Ort im Nationalpark Los Glaciares ("Die Gletscher") gegründet, um gegenüber Chile Gebietsansprüche zu untermauern. Die Versorgungswege sind lang und die Preise entsprechend höher als im Norden, dennoch mangelt es weder an gutem Wein, noch an Fleisch für ein Asado. Die Internetanbindung erfolgt per Funk über eine Reihe von Relaisstationen von El Calafate her, ein Glasfaserkabel soll aber demnächst die quälend langsame Verbindung ersetzen.
Fast alle der rund 2'300 Bewohner arbeiten in der Tourismusbranche; Wander-, Kletter-, Kayak- und Trekkingliebhaber aus aller Welt kommen, um das UNESCO-Weltnaturerbe zu erfahren und zu geniessen. Anlässlich der langen Sommerferien sind aktuell auch viele Inlandstouristen auf den Pfaden rund um die offizielle "Nationale Trekkinghauptstadt" unterwegs.

Meine Schritte lenkten mich als erstes auf den Zeltplatz Poincenot, der unbewartet im Wald liegt und als einzige Infrastruktur zwei Latrinen bietet, dafür aber auch nichts kostet. Nachdem ich mein Zelt aufgeschlagen hatte, erkundete ich von dort aus zwei prächtige Gletscherseen mit Blick auf den Fitz Roy: Die Laguna Sucia ("Schmutziger See") und die mit Eisschollen bedeckte Laguna Piedras Blancas ("Weisse-Steine-See").


Am nächsten Morgen riss mich der Wecker bereits um vier Uhr aus dem Schlaf. Schon bald folgte ich der Reihe von Lichtlein, die sich den Berg hinaufbewegte zur Laguna de los Tres, um die ersten Strahlen der Morgensonne an der Felsplatte des Fitz Roy und der benachbarten Agujas (Nadeln) Poincenot, Rafael Juarez und Saint-Exupéry zu beobachten. Nur leider machten diese nicht bei meinem Plan mit, sondern verbargen sich zunächst in den Wolken. Der Monte Fitz Roy, benannt zu Ehren des Briten Robert FitzRoy, Kapitän der HMS Beagle, auf der er zusammen mit Charles Darwin als erster den Río Santa Cruz hinaufgefahren war, wurde von den einheimischen Tehuelche "Chaltén" genannt, was "rauchender Berg" bedeutet. Zwar ist er nicht vulkanischen Ursprungs, aber häufig wirbeln Wolken um seine Flanken, welche diesen Eindruck vermitteln.


Zusammen mit Manuel aus La Plata, den ich beim Aufstieg kennen gelernt hatte, trank ich Mate und ass dazu die obligaten Kekse Don Satur. Zwar waren die Berggipfel, welche das Logo der Kleidermarke Patagonia zieren, nicht sichtbar, dafür war der Ausblick aufs erwachende Tal mit seinen vielen kleinen Seen und mäandrierenden Flüssen atemberaubend.

Die bissigen Winde Patagoniens machten das Warten zwar nicht angenehm, aber sie halfen dabei, die Wolken aufzulösen, sodass die Geduldigen eine Stunde nach Sonnenaufgang doch noch mit einem freien Blick auf die Bergspitzen belohnt wurden. Natürlich waren sie nicht mehr ins orangefarbene Morgenlicht getaucht, boten aber mit dem ständig wechselnden Schattenspiel der Wolken dennoch einen schönen Anblick.

Nach einer mehrstündigen Pause auf dem Zeltplatz wanderten Manuel und ich entlang der Lagunas Madre y Hija (Mutter und Tochter) und später dem Río Fitz Roy folgend zurück ins Dorf.
Den nächsten Tag nutzte ich für einen Ausflug zur Loma del Pliegue Tumbado, von wo aus sich ein toller Rundumblick auf die grandiose Landschaft bietet, insbesondere auch auf den Lago Viedma und die Laguna Torre mit ihren Eisbergen. Der Weg zum Gipfel ist abwechslungsreich und führt zunächst durch Steppenlandschaft und patagonische Andenwälder, vorbei an wild lebendem, ausgerissenem Rindvieh. Ziemlich abrupt wird die Landschaft steinig, am Ende geht es steil zum windumtosten Gipfel. Selbst bei bewölktem Himmel bot sich von dort eine grandiose Aussicht. Im Lago Torre liessen sich die Eisberge des gleichnamigen Gletschers erkennen, gen Süden hin blitzte der Lago Viedma türkisblau aus der Steppenlandschaft herauf und in alle Richtungen zeigten sich die Schleifen von Schmelzwasser führenden Flüssen.


Zum Abschluss besuchte ich die Miradores (Aussichtspunkte) Cóndor (Kondor) und Águila (Adler), die auch Besuchern mit wenig Wandererfahrung schöne Blicke ins Tal und aufs Dorf bieten – und wo tatsächlich auch zwei Kondore kurz vorbeischauten. Am Nachmittag nahm ich den Bus nach El Calafate, die nächste Stadt in der Gegend, die rund 29'000 Einwohner zählt. In der gesamten, riesigen Provinz Santa Cruz leben nur gut 300'000 Menschen und etwa fünfmal so viele Guanakos. Auf den ausgedehnten Estancias weiden 4.6 Millionen Rinder, wobei jedes aufgrund der wenig ertragreichen Böden zehn oder gar zwanzig Hektare zur Verfügung hat (Zum Vergleich: Im Norden, in der Pampa, reichen zwei Hektare pro Tier aus). Die vom Pazifik herkommende feuchte Luft wird an den Anden zum Aufstieg gezwungen, wobei die Feuchtigkeit kondensiert und als Niederschlag in den Bergen verbleibt - der beständige föhnartige Wind östlich der Bergkette ist trocken und verhindert die Bildung einer fruchtbaren Humusschicht.

El Calafate verdankt seinen Namen dem gleichnamigen Bach, welcher wiederum nach einem dornigen Busch benannt ist, der gelbe Blüten und dunkelblaue Beeren hervorbringt, welche in der Gegend gerne in Nahrungsmitteln und Kosmetika eingesetzt werden. Der Name des Busches schliesslich leitet sich aus der Seemannssprache ab: Im Zeitalter der Entdeckungen mussten die Fugen der hölzernen Schiffe kalfatert, sprich mit Hanf zugestopft und mit Teer abgedichtet, werden. Der Vorgang wurde regelmässig wiederholt, um das Eindringen von Wasser zu verhindern, und da in Patagonien kein Hanf verfügbar war, behalfen sich die Seeleute mit den Zweigen und dem Harz dieses Strauchs.
Die Stadt liegt am Ufer des Lago Argentino, des grössten Sees, der sich vollständig in Argentinien befindet und mit 1466 km² etwa dreimal so gross ist wie der Bodensee. Er wird von einer Vielzahl von Gletschern gespeist, welche Teil des gewaltigen Nationalparks Los Glaciares sind: Er umfasst 7'296 km², was grösser ist als der ganze Kanton Graubünden (ganz eindeutig ist diese Zahl allerdings nicht, wegen Grenzstreitigkeiten mit Chile im Gebiet). Die Gletscher sind Teil des Campo de Hielo Patagónico Sur, des südlichen patagonischen Eisfelds, welches die drittgrösste Süsswasserreserve der Welt darstellt und 49 Gletscher zählt. Der Grossteil davon liegt in Chile und ist dort durch die Nationalparks Bernardo O'Higgins und Torres del Paine geschützt. Der wohl bekannteste Gletscher des Eisfelds ist Perito Moreno, den auch ich als erstes besuchte.

Mit dem Namen des Gletschers wird der Wissenschaftler, Politiker, Entdecker und zivile Nationalheld Francisco Pascasio Moreno geehrt, welcher unter vielem mehr die Schaffung des ersten Nationalparks Argentiniens initiierte. "Perito" ist eine ehrfürchtige Bezeichnung für einen Experten, in diesem Fall in Bezug auf die Ziehung der Landesgrenzen zu Chile, bei der ihm eine entscheidende Rolle zukam.

Das Besondere am Glaciar Perito Moreno ist nicht etwa seine Grösse, sondern, dass er direkt auf die Magallanes-Halbinsel zuläuft. Dies erlaubt es Besuchern, von einer Reihe von Aussichtsplattformen aus den Gletscher von Nahem zu betrachten. Ein Highlight stellen die Abbrüche von Eisbergen dar: Immer wieder stürzen grosse und kleine Teile des Eises in die Tiefe und klatschen mit grossem Getöse ins Wasser, begleitet von einer kleinen Flutwelle.
Alle drei bis fünf Jahre ereignet sich zudem die so genannte "Ruptura", welche dann auftritt, wenn der Gletscher die Halbinsel erreicht und den Abfluss des Brazo Rico, eines Seitenarms des Lago Argentino, verhindert. Da der Gletscher auf dem Fels steht, 160 m unter der Wasseroberfläche, staut sich das Wasser auf bis zu 30 m über dem Niveau des übrigen Sees und baut einen immensen Druck auf, bis sich ein Tunnel im Eis bildet. Die Ruptura ist schliesslich der Einsturz des Eisbogens aufgrund von Erosion. Seit 2020 hat sich der Gletscher etwas zurückgezogen, unter anderem wegen Veränderungen im Bodenbereich. Selbst jetzt, wo ein kleiner Kanal zwischen dem Gletscher und dem Land den Abfluss ermöglicht, ist das Wasser des Seitenarms deutlich dunkler und stärker mit Sedimenten befrachtet als im übrigen, türkisen Schmelzwasser des Sees.


Noch bevor ich den Blick von den Aussichtsplattformen bestaunen konnte, machte ich eine Bootstour, bei der die 50 bis 80 m hohen Eiswände fast zum Greifen nah waren. Immer wieder waren von den aus unserem Blickwinkel nicht sichtbaren Seiten ein lautes "Wumms" zu hören, und mehrmals wurden wir Schiffspassagiere selbst Zeugen eines Eisabbruchs. Die Farben des Eises wirken völlig ungewohnt intensiv und vielfältig – und besonders die Formen, die Zacken, Zinnen, Türme, Säulen und Bögen sind eindrücklich und faszinierend. Die blauen Farbschattierungen rühren daher, dass sich das Eis unter hohem Druck bildet, wobei einerseits eine andere Kristallstruktur entsteht und andererseits keine Luftblasen vorhanden sind, die ansonsten das Licht streuen. Dadurch absorbiert das Gletschereis Licht mit längeren Wellenlängen und reflektiert Blautöne, je dicker, desto stärker der Farbton.


Am Abend besuchte ich ein kleines städtisches Naturschutzgebiet, in welchem eine Vielzahl von Vögeln nisten und auf Nahrungssuche gehen, sei es als dauerhafte Bewohner oder als Zugvögel. Zu ersteren gehören die majestätischen Chileflamingos, die besonders in den Stunden vor Sonnenuntergang hier gerne Krebschen filtern.

Ich verbrachte einen weiteren Tag auf dem Wasser des Lago Argentino, bei einer Bootsfahrt zu den Gletschern Upsala und Spegazzini. Der Upsala-Gletscher ist der zweitgrösste des Nationalparks und wurde nach der schwedischen Universitätsstadt benannt, von der aus die erste glaziologische Expedition zum Gletscher stattgefunden hatte. Bis zum eigentlichen Gletscher zu fahren, ist nicht möglich, weil sich immer wieder riesige Eisberge lösen, die teilweise mehr als einen Kilometer lang sind. Der Gletscher hat seit Beginn der Aufzeichnungen 1810 einen dramatischen Schwund verzeichnet, wobei sich die Geschwindigkeit des Rückgangs sich seit 2008 sogar noch massiv gesteigert hat.


Der Spegazzini-Gletscher hingegen zeigt keinerlei Anzeichen von Rückgang und bildet damit eine Ausnahme unter den grossen Gletschern. Er ist einer der wohl imposantesten in der Gegend, da er bis zu 135 m über die Wasseroberfläche aufragt – mit dem Schiff konnten wir uns auf 300 m an die Wände aus Eis annähern und die imposanten Ausmasse bei ständig wechselnden Lichtverhältnissen auf uns wirken lassen.


Wir senden dir einen lieben Gruss direkt aus der EP-Sitzung ;-)