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Montréal

Montréal

Samstag, September 30, 2023

Zugegeben, mein erster Besuch in Kanada hatte nicht gerade den besten Start. Aber Montréal machte das wieder wett.

Nach der nächtlichen und vorwiegend durchwachten Busfahrt, bei der ich mit Nackenverspannungen, einem nachbarlichen Ellenbogen und Lärm zu kämpfen gehabt hatte, deponierte ich mein Gepäck im Hostel und trottete verschlafen durch Vieux-Montréal, die Altstadt. Dort sind noch viele historische Gebäude erhalten geblieben und teilweise denkmalgeschützt (Montréal besitzt insgesamt 49 National Historic Sites, mehr als jeder andere Ort des Landes). Im Vieux-Port, dem alten Hafen, sind darunter auch eher hässliche Getreidesilos und Mühlen zu finden, die Montréal, neben anderen Faktoren, dazu verholfen hatten, lange Zeit das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Kanadas zu sein. Heute ist es nach Toronto die zweitgrösste Stadt Kanadas, nachdem es gegen Ende des letzten Jahrhunderts aufgrund des Baus des Sankt-Lorenz-Seewegs seine Bedeutung als Hafenstadt verloren hat. Die Kaianlagen wurden teilweise umgenutzt und bieten Freizeitvergnügen, ein Wissenschaftsmuseum und einen Anleger für Kreuzfahrtschiffe.

Vieux-Montréal bei Nacht
Riesenrad im Vieux-Port

Hauptsächlich auf einer grossen Insel im mächtigen Sankt-Lorenz-Stom gelegen, wurde die Stadt ursprünglich als katholische Missionsstation mit dem Namen "Ville-Marie" gegründet. Der die Insel beherrschende Berg vulkanischen Ursprungs war allerdings schon durch den ersten europäischen Seefahrer, der die Gegend erkundet hatte, zu Ehren seines Königs "Mont Royal" benannt worden. Aus diesem Flurnamen leitet sich der heutzutage gebräuchliche Stadtname ab, der Hausberg wird immer noch gleich geschrieben. 

Auf ebendiesem Berg wurde 1876 ein grosser Park eröffnet, der zu jeder Jahreszeit ein beliebtes Ausflugs- und Naherholungsziel ist. An meinem zweiten Tag konnte ich, ausgeschlafen und mit Pancakes & Ahornsirup gestärkt, die Grünanlage ausgiebig erkunden und den Blick vom Belvédère aus über die Skyline der Stadt schweifen lassen. Die hiesigen Hochhäuser dürfen übrigens nicht höher gebaut werden als der Berg.

Lac aux castors im Parc Mont Royal
Streifenhörnchen

Am Mont Royal liegt entsprechend auch der höchste Punkt der Stadt, gebildet durch das St.-Josefs-Oratorium, eine der grössten Kirchen der Welt (sie bietet Platz für 3000 Schäfchen des Herrn) und eine von vier Basilicae minores der Stadt. Sie ist gleichzeitig ein bedeutender Wallfahrtsort und ein Ort der Verehrung des 2010 heilig gesprochenen Bruder André, der den Bau im vergangenen Jahrhundert initiiert hatte. Eine Messe zu Ehren seiner Heiligsprechung füllte rund 50'000 Plätze im Olympiastadion! 

St.-Josefs-Oratorium mit Fontaine de la rédemption
Im St.-Josefs-Oratorium

Den Olympiapark, der 1976 die Athleten und Athletinnen der Sommerspiele empfangen hatte, besuchte ich am Folgetag. Montréal brüstet sich damit, die einzige Stadt Kanadas zu sein, die je als Gastgeber olympischer Sommerspiele fungiert hat – was etwas seltsam anmutet, zumal Kanada ja nicht gerade für seine Sommer bekannt ist. 

Auf den Bronzetafeln der Place Nadia-Comaneci, die die Olympiasieger und Olympiasiegerinnen von 1976 auflistet, sind besonders bei den Schwimm- und Leichtathletikwettbewerben auffällig viele Vertreterinnen aus der DDR zu finden. Schon erstaunlich, was eine gut aufgestellte Sportförderung und die moderne Sportmedizin in einem kleinen Land bewirken kann! Ein Name, der auf den Tafeln auch gleich dreimal erscheint, ist derjenige der damals vierzehnjährigen rumänischen Kunstturnerin Nadia Comăneci, die zudem je eine Gold- und eine Silbermedallie errungen hat. Die "Königin" dieser Spiele war die erste Kunstturnerin, welche die Bestnote 10.0 erhielt – ein bis dahin undenkbarer Exploit, für eine derartige Perfektion war die Anzeigetafel nicht einmal ausgelegt gewesen und zeigte bloss 1.00 an!

Olympiastadion

Das Stadion wirkt auch bald 50 Jahre nach dem Bau noch futuristisch und erinnert besonders bei Nacht an ein startendes Ufo. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch den 175 Meter hohen Turm, der den Grossteil der Dachlast trägt. Es ist der höchste schiefe Turm der Welt und böte dem Vernehmen nach eine tolle Aussicht, wenn er nicht gerade renoviert würde...

Abflug nach Andromeda

In unmittelbarer Nähe zum Stadion liegt der botanische Garten, der eine Vielzahl von Pflanzen aus aller Herren Länder zeigt. In verschiedenen thematischen "Gärten" (der Ureinwohner, japanisch, chinesisch, der grossen Bergketten,...) sind diese hübsch angeordnet und teilweise mit der Information versehen, wie es möglich ist, sie im hiesigen Klima zu halten. Im September und Oktober wird ein Teil des botanischen Gartens abends mit Licht und Musik hervorragend in Szene gesetzt. Besonders der Ureinwohnergarten, ein relativ dichter Wald mit schaurigen Klängen, ist dabei schon etwas unheimlich!

Ureinwohnergarten bei Nacht
Chinesischer Garten bei Nacht

Am Donnerstag nahm ich an einer geführten Velotour teil, bei der wir alle möglichen Informationen zur Geschichte und der Demografie der Stadt erhielten. Interessant ist dabei die historische Spaltung der Stadtquartiere in einen katholisch-französischen Teil östlich der "Main" [Street] und einen englischsprachigen westlich davon. Rund 57% der Bevölkerung nennt (ein kurliges) Französisch ihre Muttersprache, sodass Montréal weltweit nach Paris die zweitgrösste französischsprachige Stadt ist, wenn nur die Muttersprachler berücksichtigt werden. Etwa 19% spricht zu Hause englisch, der Rest entfällt auf die zahlreichen Minderheiten, die sich häufig auch quartierweise angesiedelt haben.

Am Sankt-Lorenz-Strom

Das Velo durfte ich nach der Tour bis zum Abend behalten, was ich für eine Ausfahrt zu zwei der kleineren Inseln nutzte, die zum Stadtgebiet gehören. Sie beherbergten 1967 die Weltausstellung, wobei einige der Gebäude noch genutzt werden, beispielsweise die Pavillons von Frankreich und Québec als Casino. Der amerikanische Pavillon wurde von Richard Buckminster Fuller entworfen und ist seither ein Wahrzeichen der Stadt – als Materialwissenschaftler war mir die geodätische Konstruktion natürlich aus der Vorlesung über Fullerene (Nanopartikel aus Kohlenstoff) bekannt und ein absolutes "Must-see".

Biosphère (ehemals amerikanischer Pavillon)
Konstruktion der Kuppel

Der grösste Teil der Inseln ist allerdings ein Park, in dem ich erstaunt und verzückt Waldmurmeltiere beobachten konnte. Anders als der Name vermuten liesse, wohnen sie eher am Waldrand – und konnten als eine von wenigen Spezies von der grosszügigen Abholzung der Wälder nach der Ankunft der Europäer in Nordamerika profitieren.

Waldmurmeltier

Den letzten Tag verbrachte ich ausserhalb der Stadt, im Mont-Tremblant-Nationalpark. Schon auf der Hinfahrt erfreuten scheinbar endlos rollende Hügel, über die sich bunte Mischwälder hinziehen, das Auge. Zu meiner Freude konnte ich auch einige Lärchen im prächtigen Herbstkleid entdecken. Auch wenn der Höhepunkt noch nicht erreicht ist, so hat die Natur an den Berghängen doch bereits ihre ganze Palette ausgeschöpft und mit dem dicken Pinsel grosszügig Farbe aufgetragen.

Mont-Tremblant-Nationalpark
Mont-Tremblant-Nationalpark
Chutes aux rats

Übrigens verfügt Montréal über eine grosse Unterstadt, ein gut ausgeschildertes, zusammenhängendes Netzwerk aus Tunneln, Treppen und Hallen, das den Hauptbahnhof, mehrere Metrostationen, zahlreiche Hotels, Wohn- und Bürogebäude des Zentums miteinander verbindet. Hier hat es Läden, Restaurants, Bars, einen Friseursalon und so weiter, die besonders im Winter gut von den Elementen geschützt sind. In einer Bäckerei habe ich sogar echtes Brot für meine Wanderung gefunden! Dies mag jetzt banal klingen, zumal Bäckereien für die Herstellung und den Verkauf dieses Grundnahrungsmittels bekannt sind, aber hier sind eher weiche Weissbrote und Toastbrot die Regel. Gutes Brot mit knuspriger Kruste hingegen sind meiner Erfahrung nach rar. Bagels können ein halbwegs valabler Ersatz sein und Montréal rühmt sich sogar eines eigenen Rezepts für diese Ringe, aber das ist nicht das gleiche. 

Rési

pascal
hat geschrieben
Sonntag, Oktober 1, 2023
Tolles Foto mit dem Riesenrad
René
hat geschrieben
Sonntag, Oktober 1, 2023
Deine Reiseberichte sind fundiert, informativ und gut illustriert. Sie wären eine gute Basis für einen Reiseführer gehobenen Stils. Du bist sehr belesen, gut vorbereitet und aufmerksam unterwegs, und so erfährt und lernt man so einiges beim Lesen. Toll!
Christiane
hat geschrieben
Sonntag, Oktober 1, 2023
Montreal scheint eine coole Stadt zu sein.
Ute
hat geschrieben
Dienstag, Oktober 10, 2023
Und Du hast wohl die perfekte Jahreszeit erwischt - richtig Indian Summer mit wunderschönen Farben. Viel Spass weiter!
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