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Nur rund drei Fahrstunden von Montréal entfernt liegt Québec, der Hauptort der gleichnamigen Provinz.
Ich begann meinen dortigen Aufenthalt im Grunde so, wie ich denjenigen in Montréal beendet hatte: Mit einem Ausflug in einen Nationalpark. Zufällig war ich in den Tiefen des Internets auf die Navette Nature gestossen, die an den Wochenden Busfahrten in die Natur organisiert. Das Ziel der Organisation ist es, zu günstigen Konditionen einen Transport anzubieten, um Interessierten einen Ausflug die Natur zu ermöglichen und gleichzeitig den Individualverkehr zu verringern. Ich erstand für den absoluten Spottpreis von 20 kanadischen Dollars (d.h. weniger als 14 Franken) die Hin-und Rückfahrt sowie den Eintritt in den Parc national de la Jacques-Cartier. Der Hauptfluss und mit ihm die Gegend sind nach demjenigen Seefahrer benannt, der als erster den Sankt-Lorenz-Strom erkundet hatte und auch bis Montréal bzw. den Lachine-Stromschnellen direkt flussaufwärts vorgestossen war.
Und so begab ich mich auf den Campus der Université Laval, eine der grössten Universitäten Kanadas, die ihre Wurzeln im 1663 gegründeten Séminaire de Québec hat. Dort durfte ich einen der berühmten gelben Schulbusse besteigen und meine "Aaah"s und "Oooh"s einüben, während die bunte Landschaft am Fenster vorbeizog.

Der Nationalpark bietet sich mit seinem Fluss zum Kayaken an, aber auch Wanderer und Mountainbiker kommen voll auf ihre Kosten. Durch leuchtend gelbe Birkenhaine oder immergrüne Nadelbaumwälder mit moosbedecken Böden schritt ich bei bestem Herbstwetter über die Wanderwege, auf denen stellenweise schon Ahornblätter in feurigen Farben lagen. Begleitet vom erdigen Geruch des Waldes, lauschte ich den Geräuschen um mich herum: Dem Knirschen der Steine unter den Schuhen, dem Rascheln von Laub, dem Wind, der in den Baumkronen spielte. Und immer wieder den wechselhaften Gewässern: Mal still dahinziehend, mal glucksend und murmelnd, mal plätschernd oder rauschend.



Im Kontrast zu diesem ruhigen Auftakt stand mein Besuch der Altstadt am Folgetag. Aufgrund der Hurricane Season in der Karibik suchen zahlreiche Kreuzfahrtschiffe aktuell die Häfen an der nordamerikanischen Küste auf, sodass hier Hochbetrieb herrscht. Aber wie üblich beschränken sich die Touristenmassen auf einige wenige der Strässchen und Gassen, die hier ein europäisches Flair ausstrahlen. Abseits davon und abends gibt es deutlich mehr Platz.


Vieux-Québec wurde 1985 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt, wegen seiner Bedeutung für das französische Amerika und weil es die einzige nordamerikanische Stadt ausserhalb Mexikos ist, die ihre Stadtmauern nicht niedergerissen hat. Sie verfügt ausserdem über eine Zitadelle, deren Bau 1820 durch die Briten begonnen worden ist, um einem möglichen Angriff der abtrünnigen ehemaligen Kolonien im Süden standhalten zu können. Die Bastionen der Befestigungsanlagen sind mit rund 200 Kanonen bestückt, die meisten davon versehen mit den Monogrammen britischer Monarchen, aber auch russische und deutsche Fabrikate sind zu finden, Kriegsbeute aus dem Krimkrieg respektive aus dem Ersten Weltkrieg. Die Zitadelle ist noch immer eine aktive Militärbasis, ein Museum und Wohnsitz des Premierministers, wenn er zu Besuch in der alten Hauptstadt ist.

1608 als erste erfolgreiche französische Kolonie des Kontinents und an strategischer Lage gegründet, gilt Québec als Wiege Neufrankreichs. Von hier aus besiedelten die Kolonisten ein riesiges Gebiet im heutigen Kanada und den USA, das sich dem Mississippi entlang bis nach Nouvelle-Orléans (New Orleans) ausbreitete. Um im vom Männern (Fellhändlern, Priestern und Soldaten) kolonisierten Kontinent für eine permanente Wohnbevölkerung zu sorgen, stimmte der damalige König, Louis XIV, etwa 50 Jahre später dem Vorschlag zu, rund 800 Frauen (vornehmlich Waisenmädchen und Frauen aus armen Verhältnissen) die Überfahrt und eine Mitgift zu schenken, damit jene in der Neuen Welt heiraten konnten. Viele Einwohner und Einwohnerinnen des ehemaligen französischen Kolonialreichs können sich zu den Nachfahren dieser "Töchter des Königs" zählen, prominente Beispiele sind Madonna, Angelina Jolie und Hillary Clinton. Auch Hochzeiten zwischen Ureinwohnern und Kolonisten wurden gefördert und deren Kinder (die "sang-mêlés") als legitime Staatsbürger anerkannt. Premierminister Justin Trudeau ist ein bekannter Nachfahre einer solchen Verbindung.
Das Kolonialreich war allerdings nicht von langer Dauer: Nachdem die Briten, unterstützt von den Irokesen, während des siebenjährigen Krieges die befestigten Städte entlang des Sankt-Lorenz-Stroms attackiert und erobert hatten, kam die Bevölkerung Québecs ab 1759 unter britische Herrschaft. Die daraus resultierenden und anhaltenden Spannungen lassen sich beispielsweise noch im Wahlspruch der Provinz, "Je me souviens", ich erinnere mich [gemeint: an meine Wurzeln], noch erkennen. Zeitweise versuchten die Gouvernöre, welche die Anzahl der französischsprachigen Bewohner als gering einschätzten und eine rasche Assimilierung anstrebten, die Sprache und Kultur zu verbieten und eliminieren, was die Bevölkerung damit beantwortete, mehr Kinder zu zeugen als die englischsprachigen Immigranten (ein Ereignis, das "revanche des berceaux", Rache der Wiegen, genannt wird). Die Strassennamen, Architektur und Monumente berücksichtigen heute beide Kolonialmächte und nur Montréal hat eine bedeutende englischsprachige Minderheit in der Provinz.

Doch wesentlich schlimmer als den Franzosen erging es der indigenen Bevölkerung, deren Kinder mit dem "Indian Act" den Familien entrissen und in Internate gesteckt wurden, wo sie zum rechten Glauben bekehrt werden sollten. Da die Ureinwohner ihre Traditionen mündlich weitergaben, wurde sehr effektiv die Kultur unterbunden und verheerender Schaden angerichtet. Viele Kinder kehrten in den Sommerferien nicht zu ihren Eltern zurück, weil sie während des Schuljahres an Krankheiten gestorben waren. Mehrere in den letzten Jahren aufgefundene, nicht markierte Massengräber zeugen von diesem dunklen Kapitel der kanadischen Geschichte, das leider auch gar nicht lange her ist: Das letzte Internat schloss erst 1996! Auf Bitten indigener Gruppen besuchte erst 2022 Papst Franziskus, übrigens als letzter Vertreter einer der Verantwortlichen Organismen, die Basilika-Kathedrale Notre-Dame de Québec, um die Betroffenen um Entschuldigung zu bitten.

Über den Glockentürmen der Gotteshäuser, deren Vertreter sich bezüglich der Höhe gegenseitig zu übertrumpfen trachteten, sticht vor allem ein Gebäude mit seiner Grösse und Höhe hervor: Das Château Frontenac, 1892 als Hotel für die Eisenbahnreisenden erbaut. Zahlungskräftige Gäste können auch heute noch in einem der 610 Zimmer absteigen.


Den grössten Teil meines dritten und letzten Tages verbrachte ich am mit dem Stadtbus erreichbaren Montmorency-Wasserfall (noch ein Nationalpark!). Die Wassermassen stürzen hier tosend 83 m in die Tiefe und bieten ein Schauspiel, das aus allen möglichen Winkeln betrachtet werden kann, sogar per Seilbahn und Zipline (letztere war aber glücklicherweise bei meinem Besuch nicht in Betrieb). Im Winter vereist der Fluss unterhalb des Wasserfalls und der Nebel bildet einen "Zuckerhut" aus Eis, der bis zu 30 m hoch werden kann.


P. S.: Vielen Dank für die lieben Kommentare! Ich lese sie alle mit Freude, habe aber auf der Webseite leider keine Möglichkeit, direkt zu antworten.
Lies deinen Bericht jedes Mal. Sehr informativ und unterhaltsam. Muy bien! Wünsch dir eine wunderbare Zeit und geniess jede Sekunde davon. 💃🏼
Die Schilderung deines Ausfluges in den Nationalpark zu lesen war ein Genuss!