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Seattle

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Freitag, Mai 31, 2024

Eine Busfahrt über die zweistöckige Bay Bridge brachte mich kurz nach dem Eindunkeln von der San-Francisco-Halbinsel nach Oakland und damit zur Eisenbahn.

Wegen eines Buschfeuers verzögerte sich die Zugsabfahrt um fast zwei Stunden, dann aber fuhr der glänzende Koloss hupend in den Bahnhof ein. Vielleicht wirken die Doppelstockwagen so riesig, weil in den USA an den meisten Bahnhöfen kein Perron vorhanden ist – Passagiere nähern sich den Türen auf Gleishöhe und steigen über stählerne Schemel ein, welche das Zugpersonal jeweils aufstellt. Wegen der horrend hohen Preise für Liegeabteile hatte ich ursprünglich einen Sitzplatz gebucht und ein niedriges Gebot für ein Upgrade abgegeben. Und offensichtlich reichte das aus, jedenfalls bekam ich eine private "Roomette" zugeteilt. Die Abteile lagen parallel zum Mittelgang angeordnet im oberen Stockwerk, im unteren gab es Räumlichkeiten für die Besatzung, Toiletten und sogar eine Dusche. Letztere probierte ich nach einer erholsamen Nacht aus und fühlte mich für eine Nachtzugfahrt ungewohnt erfrischt.

Ein weiterer Vorteil meines Klassenwechsels war, dass auf der 22-stündigen Fahrt drei Mahlzeiten inbegriffen waren. Im Speisewagen wurde ich dafür jeweils mit anderen Passagieren zusammengesetzt, was zu einigen spannenden Gesprächen führte. Der Zug wand sich unter einem blauen Himmel durch endlos scheinende Wälder und vorbei an verschneiten Bergen, belebten Mooren und verschiedenen Gewässern. An einigen Bahnhöfen konnte man sich die Beine vertreten, und langsam, aber stetig ging es durch Kalifornien, Oregon und Washington nordwärts. Mit einer Stunde Verspätung erreichten wir am Abend King Street Station in Seattle.

Oregon

An einem regnerischen Tag besuchte ich als erstes die grosse Markthalle, wo Fisch, Krabben sowie Meeresfrüchte angeboten werden und Früchte- und Gemüsestände, aber auch andere Läden untergekommen sind. Unter anderem fand ich im Untergeschoss einen Comicbuchladen und ein Geschäft für Zauberartikel. In direkter Nachbarschaft des Pike Place Market befindet sich in der Post Street die sicherlich ekelhafteste Sehenswürdigkeit der Stadt, die "Gum Wall". In den 1990er-Jahren begannen wartende Gäste des dortigen Improtheaters, ihre ausgekauten Kaugummis an die Wand zu kleben, und trotz mehrerer Reinigungsaktionen überlebte der Brauch. Seit 1999 gilt die Wand als improvisiertes Kunstprojekt, das regelmässig mit Dampf desinfiziert wird. Wegen Bedenken, die Inhaltsstoffe würden die Ziegelsteine angreifen, wurden 2015 alle Kaugummis entfernt – eine bis zu 15 cm dicke Schicht mit einem Gewicht von 907 kg! Direkt nach der Versiegelung der historischen Bausubstanz sorgten Touristen aber dafür, dass die Gum Wall eine Wiedergeburt feierte.

Gum Wall

Etwas weniger gewöhnungsbedürftige Kunst konnte ich daraufhin im Olympic Sculpture Park bewundern: Werke verschiedene Künstler*innen trotzen dort den Elementen. Ich spazierte weiter zum bekanntesten Wahrzeichen der Stadt, der Space Needle. Diese wurde während des Space Race für die Weltausstellung 1962 erbaut und widerspiegelt deren Motto "Das Leben des Menschen im Weltraumzeitalter". Auch heute noch wirkt das 184 m hohe Gebäude futuristisch. Des schlechten Wetters wegen besuchte ich die Aussichtsplattform aber nicht, sondern schlenderte durch die umliegende Parkanlage und bewunderte die geschwungene Fassade des Museum of Pop Culture.

Olympic Sculpture Park
MoPOP
Space Needle

Ein geführter Ausflug brachte mich anderntags in den Olympic National Park, wo ich zusammen mit einem bunten Grüppchen Reisender den pittoresken Lake Crescent bewundern konnte und durch Gemässigten Regenwald wandelte. Die Gewöhnlichen Douglasien, Riesen-Lebensbäume und Kanadischen Hemlocktannen sind mit allerlei Moosen bewachsen, im Unterholz gedeihen verschiedene Farne. Schon 1897 wurden die Urwälder unter Schutz gestellt, um die Abholzung durch die boomende Holzindustrie zu verhindern, 1909 wurde das Mount Olympus National Monument durch Theodore Roosevelt eingerichtet, um auch der Jagd auf Wapitis einen Riegel vorzuschieben. Heute gehört der 1938 errichtete Nationalpark, in dem mehrere endemische Arten leben, zum UNESCO-Weltnaturerbe.

Olympic National Park
Olympic National Park
Olympic National Park

Ein weiterer Halt brachte uns zum Tongue Point State Park, wo wir in Gezeitentümpeln verschiedene Meeresbewohner beobachten, unter anderem Einsiedlerkrebse und andere Krabben, Schnecken und Seeanemonen. Zum Abschluss besuchten wir die reizvollen Madison Falls, bevor es wieder zurückging zur Fähre und zu einem der bedeutendsten Häfen an der nordamerikanischen Westküste.

Tongue Point State Park
Gezeitentümpel

Spannendes über die Geschichte Seattles erfuhr ich im Klondike Gold Rush National Historic Park: Die ersten europäischen Siedler kamen 1851 auf dem heutigen Stadtgebiet an, und der Reichtum an Küstenregenwald zog Holzfäller an. Die Stadt wurde nach Chief Seattle benannt, einem bekannten Anführer der Duwamish und Suquamish. Einen gewaltigen Wachstumsschub erlebte die Emerald City aber, als 1896 an einigen Zuflüssen des Klondike in Kanada die grösste Konzentration an Goldablagerungen überhaupt gefunden wurde. Dank einer geschickten Vermarktung der erst wenige Jahre zuvor ans Eisenbahnnetz angeschlossenen Stadt reisten rund 70 % der "Stampeders" über den Hafen von Seattle die Küste hinauf. Die North West Mounted Police verlangte von jedem Einreisenden, neben Werkzeug, Zeltausrüstung und warmer Kleidung Vorräte für ein ganzes Jahr mitzuführen – und alles Nötige, vieles Nützliches und reichlich Unnützes hielten die Händler der Stadt bereit. Das ganze Gepäck wog rund eine Tonne, welche die meisten Goldsucher von den Boomtowns in Alaska aus mühsam in mehreren Etappen selbst schleppen mussten, bis sie den Yukon River erreichten und per selbst gezimmertem Boot nach Dawson fahren konnten. Dort erwartete die erschöpften Menschen eine Enttäuschung; alle ergiebigen Parzellen waren längst abgesteckt. Einige fanden Arbeit auf abgesteckten Claims, manche verdienten immerhin genug, um die beträchtlichen Investitionen zurückzugewinnen (inflationsbereinigt etwa 27'000 USD). Nur ein paar hundert der mehr als 40'000 Abenteurer wurde reich – und bloss eine Handvoll blieb dauerhaft reich. Aus der einschlägigen Literatur geht hervor, dass einer der Glücklichen Dagobert Duck war, der am Klondike den Grundstein für seinen unermesslichen Reichtum von über fünf Fantastillarden Talern legte¹.

Einen zur Abwechslung warmen und sonnigen Nachmittag verbrachte ich auf dem Campus der University of Washington. In Stephanie, die ich vom Trek in Chile her kannte, hatte ich eine ortskundige Führerin, die mir das Gelände zeigte: Die Korporationshäuser der Studentenverbindungen, die schönen Backsteingebäude und weiten, offenen Flächen und das riesige Footballstadion. Am besten gefiel mir ein Bibliotheksgebäude, das an eine gotische Kirche erinnert, ein wahrer Tempel des Wissens. Durch die hohen Buntglasfenster des Lesesaals fiel herrlich die Nachmittagssonne herein und erleuchtete den langen Raum. In den Apsiden an beiden Enden sucht man Chorgestühl und Kruzifix vergeblich, dafür zeigen schimmernde Globen das Rund der Welt.

Bibliothek
Bibliothek
University of Washington

Bei bester Fernsicht besuchte ich zum Abschluss die Aussichtsplattform der Space Needle. Die Innenstadt mit den Wolkenkratzern glänzte im Abendlicht, dahinter ragte mächtig der verschneite Vulkankegel des Mount Rainier auf. Ich blieb bis nach Sonnenuntergang und genoss das sich verändernde Panorama. Ich wagte mich auch auf den gläsernen Boden des Drehrestaurants – schon eine spezielle Erfahrung, 152 m über dem Erdboden schwebend langsam bewegt zu werden!

Seattle Downtown
Mount Rainier
Space Needle

Am folgenden Morgen bestieg ich erneut einen Zug nach Norden, dieses Mal mit Ziel Vancouver. Wir schlängelten uns dem Puget Sound entlang und erhielten eine prächtige (und seltene) Aussicht auf die Olympic Mountain Range und den Vulkan Mount Baker. Auch Tiere liessen sich blicken, darunter Seehunde, Kanadareiher sowie, direkt hinter der kanadischen Grenze, drei Weisskopfseeadler. Das Wappentier der USA migriert aktuell zu den Brutgebieten im Norden. Kurz vor dem Bahnhof in Vancouver blockierte eine Protestaktion pro-palästinensischer Demonstranten die Geleise, sodass wir, nach ansonsten flotter vierstündiger Fahrt, dreieinhalb Stunden Verspätung einfingen. Die Polizei packte nicht gerade mit Samthandschuhen zu, nachdem sie einen Gerichtsbeschluss für die Räumung der Schienen erhielt².

King Street Station
Olympic Mountainrange

Verweise:

¹ Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden / Die Biografie von Don Rosa. 4. Auflage 2011, Ehapa Comic Collection, Köln.

² Artikel von Citynews Vancouver: https://vancouver.citynews.ca/2024/05/31/pro-palestinian-protesters-east-vancouver-rail-line/

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