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Almost heaven, West Virginia, Blue Ridge Mountains, Shenandoah River... Wie John Denver in seinem Sehnsuchtslied folgte ich mit meinem Mietauto den Landstrassen.
Ich fuhr durch das ländliche Virginia westwärts, allerdings nicht ganz bis West Virginia. Mein Weg führte mich an Ranches und Farmen vorbei und durch schmucke kleine Dörfer, bis ich Front Royal am Nordende des Shenandoah National Park erreichte.

Dieser Nationalpark erstreckt sich in einem schmalen, zerfledderten Band um die nördlichen Blue Ridge Mountains, parallel zu den in der Ebene mäandrierenden North Fork und South Fork des Shenandoah River. Die aussergewöhnliche und unregelmässige Form ergibt sich daraus, dass diese Gegend bewohnt, parzelliert und seit mehreren Generationen bewirtschaftet worden war – viele der Landbesitzer wollten sich nur sehr ungern von ihrem Boden trennen. Die Dimensionen des angedachten Nationalparks wurden daher mit der Zeit angepasst. Neben Aufkäufen durch den Bundesstaat Virginia kam es gegen Ende der Phase der Landakquise auch zu Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, welche unter anderem auch mit einem sehr unwissenschaftlichen und einseitigen Bericht von Soziologen, welche die lokale Bevölkerung studiert hatten, begründet wurde. Immerhin erhielten 78 Bewohnerinnen und Bewohner, die meist bereits über 60 waren, das Recht, auf Lebenszeit in ihren Häusern wohnen zu bleiben. Die letzte solche Bewohnerin starb 92-jährig im Jahre 1979.

Shenandoah National Park wurde Anfang der 1920er-Jahre erstmals angedacht, der zweite Nationalpark östlich des Mississippi. Er sollte für Millionen von Amerikanern weniger als eine Tagesreise entfernt sein, anders als die existierenden Nationalparks im Westen des riesigen Landes. Zwar waren jene durch die Eisenbahn erschlossen worden, um Eisenbahnreisen attraktiver zu machen, aber die Reise dorthin war für viele unerschwinglich. Mit dem Aufkommen bezahlbarer Automobile (man denke da an das robuste und preisgünstige Ford Model T) gewannen auch weniger wohlhabende Städter eine bis dahin ungekannte Mobilität und bald wurde beschlossen, eine Panoramastrasse, den Skyline Drive, entlang der Gratlinie zu bauen, mit rund 70 Aussichtspunkten. Das Konzept war ein Riesenerfolg und so zog der Park schon kurz nach der Eröffnung 1936 hunderttausende Besucher jährlich an. Dank der Benzinverknappung während des Zweiten Weltkriegs konnte sich die Natur eine Weile lang recht ungestört erholen, sodass seither eine Vielzahl an Pflanzen, Insekten, Säugetieren, Vögeln und Amphibien die vorwiegend aus Eichenarten bestehenden Wälder bevölkern. Einen ziemlichen Schrecken jagten mir beim Wandern zwei Exemplare der glücklicherweise ungiftigen Siegelring-Schwimmnatter ein, als ich fast über sie gestolpert wäre!

Der grösste Bewohner dieser Wälder ist der Amerikanische Schwarzbär. Im Normalfall ist diese Bärenart nicht sehr aggressiv und kann gemäss Aussage eines Bärenjägers, den ich in Washington kennen gelernt hatte, sowie nach Informationen der Parkranger mit lauten Geräuschen vertrieben werden. Problematisch ist, wenn ihr feiner Geruchssinn sie zu Autos und Zelten führt – einige Menschen versuchen dann, sie zu füttern oder gar zu streicheln! Da Bären eine Abhängigkeit von solch einfachen Nahrungsquellen entwickeln können, müssen auf dem Campingplatz Essen und parfümierte Gebrauchsgegenstände im Auto oder in speziellen Boxen eingeschlossen werden. Auch der Abfall muss in bärensicheren Containern entsorgt werden. Mir war es leider nicht vergönnt, Meister Petz zu begegnen, vielleicht ist das aber auch ganz gut so :)

Meine erste Nacht verbrachte ich in Mathews Arm, einem kleinen Campingplatz im Norden des Parks. Ich suchte mir für mein Zelt eine Parzelle am Waldrand aus – richtig toll war, dass es bei jeder Parzelle auch einen Stahltisch und eine Feuerstelle gab. Am Morgen wurde ich dann von Rehen überrascht, die auf dem Campingplatz grasten.


Für meine übrigen Nächte installierte ich mich in Big Meadows, dem grössten Campingplatz, wo auch eine Tankstelle, ein Restaurant mit kleinem Lebensmittelladen und ein Besucherzentrum mit WLAN vorhanden sind. Benannt ist die Gegend nach einer grossen und in dieser Lage ungewöhnlichen Heidefläche, die sich aktuell in prächtigen Farbtönen präsentiert.

Vom 167 km langen Skyline Drive, den ich von Norden nach Süden abgefahren bin, zweigen an verschiedenen Orten Wanderwege ab, das Wegnetz erstreckt sich über 800 km! Ein Weg, den ich am ersten Tag beging, führte mitten im Wald an einem Familienfriedhof vorbei, ein stummer Zeitzeuge der früheren Bewohner der Gegend.

Ein Highlight meines Aufenthalts in Shenandoah war bei bestem Wetter der Besuch der Whiteoaks Falls, eine Schlucht mit sechs Wasserfällen und unzähligen kleineren Kaskaden.


Der einzige Gipfel, den ich bestieg, war Hawksbill Mountain, mit 1'235 m der Höchste Punkt des Parks. Da aber zu diesem Zeitpunkt Nebel herrschte, war die Aussicht ziemlich eingeschränkt. Dafür hängte ich noch einen Rundweg an, der mich ein winziges Stückchen den Appalachian Trail entlangführte. Dieser Fernwanderweg erstreckt sich 3'540 km von Maine im Nordosten der USA durch den gesamten Gebirgszug der Appalachen nach Georgia im Süden – die Durchquerung dauert fünf bis sieben Monate!


Aktuell sind die Tageshöchsttemperaturen bei etwa 13 °C und die sternenklaren Nächte bringen neben Blicken auf die Milchstrasse auch Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. In zwei Nächten windete es auch ordentlich. Insgesamt war es also nicht nur ein tolles Erlebnis, sondern auch ein hervorragender Test für meine Ausrüstung – und stimmt mich zuversichtlich, was den späteren Aufenthalt in Patagonien im Dezember und Januar angeht.



